Heute Früh verließ ich Kracker das Pferd, die beiden Hunde und das gemütliche Haus, das ich bis jetzt gehütet hatte.
Meine Gastgeber waren bereits vor zwei Tagen nach Hause zurückgekehrt. Sie hatten mir netterweise angeboten – für immer zu bleiben. Das ging zu weit, doch in zwei Wochen werde ich noch mal einen kurzen Zwischenstopp bei ihnen einlegen (und dann wieder sehr dankbar über das Daunenbett sein).
Anfangs hatte mich die Gastgeberin, eine etwa 70-jährige Schottin, durchaus irritiert (bis ich sie dann kurz darauf ins Herz schloss). In den ersten 5 Minuten unseres Kennenlernens erzählte sie mir, das ihre Schwiegermutter eine Hexe sei. Mit jeder weiteren Minute ihrer Erzählung kam ein weiteres Mitglied ihrer Verwandtschaft dazu – und sie alle kamen nicht viel besser weg als die Hexe.
Es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, dass hier ein großartiges Theaterstück in Gange war, und begann, die kostenlose Vorstellung zu genießen.
Vor Kurzem war ihr Vater gestorben – der Tod war lange erwartet worden, niemand schien erschüttert – und so musste nun die Beerdigung organisiert werden. Zu allem Unglück reiste dazu der Bruder der Gastgeberin mitsamt Gattin aus dem fernen Asien an. Diese Gattin! Eine Bankerin aus Malaysia, die der festen Überzeugung sei – so wusste meine Gastgeberin – etwas besseres zu sein als meine Gastgeber, die beiden schottischen Farmer. Während die beiden praktisch veranlagt seien, tue jene nichts anderes, als den lieben langen Tag Designerhandtaschen zu kaufen.
Heute Mittag sollten die beiden unliebsamen Gäste also ankommen. Schon in der Früh lag eine angespannte Nervosität in der Luft. Als ich in die Küche kam, war meine Gastgeberin gerade verzweifelt darum bemüht, fünf Kuchen halbwegs ansehnlich auf eine Platte zu stapeln. Dabei beschwerte sie sich darüber, dass es jedes Mal das gleiche sei: Sie kaufe fünf Kuchen, ihr Bruder komme und esse keinen davon.
Aus Gründen der Höflichkeit (und aus Rücksicht auf die laufende Vorstellung) verzichtete ich auf die Frage, weshalb sie denn dann schon wieder fünf Kuchen gekauft habe?
Meine Gastgeberin hatte sich extra fein gekleidet, schließlich hielte sich ihre Schwägerin ansonsten wieder für etwas besseres. In dem Moment kam ihr Mann in Arbeitsklamotten von draußen und betrat hungrig die Küche. Mit blankem Entsetzen ordnete sie an, er solle sich gefälligst etwas ordentliches anziehen! Woraufhin er protestierte – nur weil die Gattin des Bruders denke, etwas besseres zu sein, ziehe er sich doch nicht um!
Nun gut. So standen die viel zu schicke Dame und der Farmer in Arbeitsklamotten nervös an der Tür und warteten auf die Ankunft des ominösen Bruders. Ich musste an meinen Lieblings-Theaterautor denken, Anton Tschechow. Denn dieses Stück hätte auch aus seiner Feder stammen können: Anlässlich der Beerdigung des reichen Vaters kommt der verschollene Bruder aus Malaysia mitsamt edler Gattin in das schottische Farmhaus des „praktisch veranlagten“ Ehepaars – großartiger Stoff! Wie würde es bei Tschechow wohl weitergehen?
Der Hausherr würde sich natürlich schon im ersten Akt heimlich in die schöne fremde Gattin verlieben. Im zweiten Akt würde der Bruder den Anwesenden kleinlaut offenbaren, dass er das Haus des Vaters betrunken beim Pferderennen verzockt hat und die Frage nach dem Erbe damit hinfällig ist. Und während die Hausherrin im dritten Akt ihren Bruder mit fünf verschiedenen Kuchen und so allerhand dunklen Familiengeheimnissen bewirft, machen sich die Gattin und der Hausherr betroffen aus dem Staub. Wie das Theater eben so spielt.
@#Traugott Ich wünsche dir viele tolle Eindrücke
@#Picaroon Danke Wolfgang :)